Belletristik

Douglas Coupland – Hey Nostradamus!

GOD IS NOWHERE / GOD IS NOW HERE

Es sind diese Worte, die Cheryl Anway auf ihren Notizblock kritzelt, bevor sie der Vancouver-Variante des Columbine High School Massakers zum Opfer fällt. Es sind diese Worte, die sie zu einer der verehrten Heldinnen des Dramas machen, und die sich als Thema durch Couplands vielleicht seltsamsten Roman ziehen.

Cheryl Anway ist nicht mal 18, und bereits tot, während sie den ersten von vier Teilen des Romans erzählt. Sie ist ein All-American Girl (oder Canadian, aber das spielt hier kaum eine Rolle). Aus der Monotonie des Daseins entrückt sie sich selbst, indem sie bei YOUTH ALIVE!, einer religiösen Jungscharbewegung, Mitglied wird. Kontemplativ aus einem Reich des Dazwischen beäugt sie ihr Dasein, ihre Religiosität und ihre heimliche Ehe mit Jason, der wie sie ein ALIVE!-Kid ist. Schon für diesen ersten Teil des Buches, der uns den Glanz und die Glorie der Welt mit den Augen eines Kindes oder Künstlers nahebringt, lohnt es sich,

Hey Nostradamus!

aufzuschlagen.

Der nächste Teil der Geschichte führt uns über ein Jahrzehnt später in die Welt von Jason, dessen Leben seit dem Massaker, seit Cheryl in seinen Armen starb, in Trümmern liegt. Sein Kampf mit der Welt, der Obrigkeit, Gott und nicht zuletzt seinem religiösen, verstörten Vater, begleitet uns durch eine kaputte Lebensgeschichte, die in den Bann schlägt. Seine Zusammentreffen mit seinem perfekten Bruder und dessen Frau und der Halbwelt Nordamerikas sind nur Stationen auf dem Weg zum furiosen Finale…

Das ist vielleicht das auffälligste Merkmal an Couplands Buch: die Charaktere haben eine Tiefe und Echtheit, wie sie der Autor in Generation X nie erreichen konnte. Ebenso katastrophale wie zutiefst menschliche Wendungen des Storyverlaufs machen es fast unmöglich, dieses Buch aus der Hand zu legen.

Auch für Hey Nostradamus! gilt, das es ein Generation-X-Roman ist – ich bezweifle, dass jemand ausserhalb der heutigen Lebensumstände und (Pop-)Kultur etwas mit Doug Couplands Plots und Problemen anfangen könnte – zeitlos sind seine Charaktere mitnichten, sie sind absolut zeitgemäss, legen den Finger in die Wunde des heutigen, moralinsauren, computerüberwachten Amerika. Und so führt uns der dritte Teil, erzählt von Heather, die ganz neue, kreative Seiten an Jason entdeckt und die ihre Erfahrungen mit einer paranormal begabten Frau macht, auch in die Welt von Software, mit der man Gesichter erkennen und vergleichen und Analoge von Menschen, das sind Menschen, die einem bis auf wenige Punkte absolut ähnlich sehen, finden kann. Diese Hightech-Elemente flicht Coupland mit gewohnter Souveränität als einen kleinen und doch bedeutsamen Subplot ein.

Allen Charakteren, und da schließt sich dann im letzten Abschnitt mit Reg, dem manisch religiösen Vater von Jason (der mich an den finnischen Independent-Film „Bad Boys – A True Story“ erinnert) ein Kreis – ist gemeinsam, dass sie gegen ihre innere Leere kämpfen, versuchen zwanghaft das Richtige zu tun und einen Weg zu sich oder dem was sie als das Göttliche erfahren, zu finden. In diesem Kampf um Liebe, Respekt und einen Daseinszweck über den banalen Alltag hinaus ergeben ihre verdrehten Lebensgeschichten einen Sinn, der uns zum Ausgangspunkt zurückbringt – es ist eine Frage des individuellen Standpunktes.

God is nowhere. God is now here.

Ein spannender, aufregender, nachdenklicher und düsterer Roman.

Bewertung: ★★★★★