Biographien Reisen

Kelly Winters – Walking Home: A Woman’s Pilgrimage on the Appalachian Trail

Lange, bevor sich Bill Bryson auf seinen Walk in the Woods (auf Deutsch: Picknick mit Bären) begab und damit ein weitgefächertes Interesse am Appalachian Trail weckte, nämlich vor mehr als 25 Jahren, interessierte ich mich schon für diesen ungewöhnlichen Wanderweg, der sich 2100 Meilen entlang steiler Bergrücken quer durch 14 Staaten der USA zieht. Das war noch vor den Zeiten des WWW, und dennoch trieb ich Informationen auf, begann Schnipsel zu sammeln und davon zu träumen, irgendwann den Trail zu begehen.

Irgendwie wurde daraus aber nichts, dennoch faszinieren mich Berichte über solche Outdoor-Abenteuer sehr. Deswegen stand auch

Walking Home, by Kelly Winters

Walking Home: A Woman’s Pilgrimage on the Appalachian Trail

lange Zeit auf meiner Leseliste bzw. dem Wunschzettel, und vom Erwerb bis zum Lesen vergingen nochmals zwei Jahre. Bequem auf einem Sessel sitzend, in einem thailändischen Resort bei Außentemperaturen von 30°C, war das genau die Art von Lektüre, die Spaß macht. Ich hatte viel Vergnügen beim Lesen, denn Kelly Winters ist eine durchaus begabte Autorin und lässt mit ihren Beschreibungen die Schönheit der Natur, welche sie durchwandert, bildhaft erstehen, ebenso wie ihre Schilderungen von Unwettern und anderen weniger schönen Begleitumständen ihrer Wanderung sehr lebensecht sind.

Mit wenig schönen Begleitumständen, oder eher Auslösern für diese Wanderung zu sich selbst, beginnt auch das Buch, und das ist mit mein größter Kritikpunkt, denn Winters lässt sich recht plastisch und unnötig ausführlich (nicht nur) für meinen Geschmack über die ungesunde Beziehung zu einem Mann aus, dessen sexuelle Vorlieben eher unappetitlich waren. Sie braucht lange, um die Kraft zu finden, diesen Mann zu verlassen, und ich kann nur vermuten, dass sie dies deswegen an den Anfang gestellt hat, weil es in so starkem Kontrast zu der selbstbewussten Person steht, die man am Ende des Buches kennen gelernt hat.

Mit dem Trail-Namen „Amazing Grace“ geht sie auf die lange Wanderung. Winters ist zum Beginn ihrer Reise fit, und hat langjährige Erfahrung mit dem Campen in der Wildnis, außerdem bringt sie eine starke Liebe zur Natur mit, etwas das ihr ihr Vater vermittelt hat. Dessen Tod ist ein weiterer Schlag für ihre Psyche. Ihre Reise zu sich selbst, die Selbstfindung, eben die „Pilgerreise“ steht im Vordergrund dieses Buches, wenn die Autorin auch von ihren Erlebnissen auf und neben dem Trail berichtet, zum Beispiel von der Gastfreundschaft der Südstaaten wie der Feindseligkeit der Rednecks.

Bei aller guten Vorbereitung ist sie jedoch nicht gewappnet für den Trail; sie stellt fest, dass sie nicht so viele Kalorien tragen kann wie sie bräuchte und verliert. Sie berichtet vom Kampf mit dem inneren Schweinehund; von der Abwägung, lieber noch einen Tag zu rasten und sich auszukurieren als sie krank ist, oder weiter zu gehen, um nicht zurückzufallen, es vor dem Schnee ans andere Ende des Trails zu schaffen; von verschwundenen Pfaden, dem Gefühl fertig und durchnässt zu sein; von Freund- und Feindschaften in der Gemeinschaft derer, die den Trail laufen, und auch von „trail magic“ und „trail angels“.

Manche Leser bei Amazon.com werfen ihr vor, sie sei zu negativ und beschwere sich zu viel, jammere nur, aber das habe ich beim Lesen ganz anders empfunden. Manche ihrer Entscheidungen finde ich fragwürdig, aber es sind ihre Entscheidungen, nicht meine, und sie ist den Trail gelaufen, ich nicht – ich maße mir nicht an, darüber zu urteilen. Sie liefert jedenfalls ein relativ ernüchterndes Bild des Erlebnisses „Appalachian Trail“ ab, eines das zeigt, wie so eine Tour eben auch ablaufen kann, daran ist nichts verkehrt.

In der Erzählung gibt es ein paar Sprünge und Lücken; ich denke das ist verzeihlich bei jemandem, der mit 50 Pfund Rucksack völlig erledigt oft nicht mal mehr die Kraft für ein paar Zeilen im Tagebuch hat; letztlich ist es die Gewissheit, dass der Trail das ist, was sie tun will und muss, die sie vorantreibt. Bei manchen Passagen musste ich fast hilflos lachen, in anderen Abschnitten tat sie mir wirklich leid, man leidet ein bisschen mit ihr durch das Buch.

Letzten Endes bringt Kelly Winters den Trail nicht zu Ende, sondern steigt noch vor den White Mountains aus, ihre Knie geben nach, und sie hat Angst um ihre Gesundheit und bei den Wetterbedingungen nicht ganz ohne Grund auch um ihr Leben. Ihre innere Klarheit hat sie zu diesem Zeitpunkt gefunden, und daraus zieht sie auch die Kraft, zu sagen: es ist genug, es reicht, ich muss den Trail nicht durchziehen, nur um mir oder anderen etwas zu beweisen. Ich bin am Ziel. Viele werfen Winters genau das vor, dass sie ja kein „echter“ Thru-Hiker sei, aber ich finde diese Entscheidung mutig – und so wie niemand sie gezwungen hat, überhaupt loszugehen, steht es auch niemandem zu, sie für das ‚vorzeitige‘ Beenden der Reise zu verurteilen.

An ein paar Stellen scheinen mir dramatische Punkte etwas überzogen dargestellt, vielleicht um dem Ganzen mehr Spannung zu verleihen, aber spannend ist das Buch – bis auf das sich bereits auf den ersten Seiten ankündigende Thema der Homosexualität, das ich ermüdend fand – auch so. Nein, Winters ist den Trail nicht komplett gelaufen, und ihr Buch ist sicher nicht so inspirierend geschrieben wie andere Werke zum Trail – ich habe nicht den Drang verspürt, neue Wanderstiefel zu kaufen und loszulaufen, eher im Gegenteil. Aber es ist ein recht authentisches Buch von jemandem, der ein Abenteuer wirklich gewagt hat, von dem viele andere, mich eingeschlossen, nur träumen, und schon deswegen eine sehr lohnende Lektüre.

Bewertung: ★★★½☆