Medizin

Howard & Daralyn Brody – Der Placebo-Effekt

Der Placebo-Effekt. Die Selbstheilungskräfte unseres Körpers.

„Nur“ ein Placebo-Effekt heißt es oft abwertend, wenn es um die Heilerfolge alternativer Medizin geht. Aber auch die Schulmedizin kennt Placebo-Effekte seit hunderten von Jahren, und langsam wandelt sich das Bild des Placebo-Effektes. Während lange Zeit Mediziner annahmen, wenn ihre Patienten auf Placebos reagierten, hätten sie sich ihre Krankheiten zuvor nur eingebildet, weiß man heute, dass der Placebo-Effekt tatsächlich echte und auch schwere Krankheiten wirkungsvoll „therapiert“ – nur warum?

Howard Brody geleitet den Leser zunächst durch die Geschichte der Placebo-Forschung, führt Experimente auf, die gezeigt haben, dass der Placebo-Effekt nicht nur wirkt, sondern zum Teil genauso wirksam ist wie Operationen und Medikamente mit schweren Nebenwirkungen. Dann widmet er sich der Frage, wie dieser Placebo-Effekt zustande kommt. Gibt es Patienten, die besonders gut auf Placebos reagieren? Die Pharmaindustrie wäre glücklich, wenn das so einfach wäre – dann würde sie Placebo-Empfängliche bei Medikamentenstudien gleich aussortieren… Auch dem Thema Nocebo, nämlich der Tatsache, dass auch negative Erwartungen und Prägungen, die nicht selten von medizinischem Personal ausgehen, die Gesundheit von Patienten beeinträchtigen können, widmet sich der Autor.

Und wäre es nicht toll, wenn wir Schwerkranke einfach mit Zuckerpillen heilen könnten oder einem winzigen Schnitt, statt mit starken Medikamenten oder lebensbedrohlichen Operationen? Sind nicht Placebo-Effekte eine ideale Form von Heilung und Therapie, statt Scharlatanerie?

Das, was wir heute als Placebo bezeichnen, ist meist ein Kontrollverfahren in sogenannten Doppelblindstudien, die feststellen sollen, wie wirksam ein Medikament ist oder auch nicht. Aber der Placebo-Effekt ist vor allem eine mächtige Methode, die inneren Heilkräfte des Menschen anzuzapfen, Heilkräfte, die weit über das „daran glauben“ hinaus gehen. Die Brodys analysieren die verschiedenen Arten, wie sich Placebowirkungen bemerkbar machen, nämlich durch Veränderung der Erwartungshaltung eines Patienten (und auch der Ärzte), durch Konditionierung – hieraus ergeben sich zum Teil interessante neue Ansätze auch für die medikamentöse Therapie – und insbesondere Bedeutung. Gerade beim Punkt Bedeutung zeigen die wissenschaftlichen Studien, die Brody anführt, wie wichtig es für den Genesungsprozess von Kranken ist, dass ihre Ärzte sich Zeit für sie nehmen, ihnen zuhören, und ihnen selbständige Möglichkeiten offerieren, ihre Krankheits- und Lebenssituation in den Griff zu bekommen. Das ist oft sehr viel wirksamer als ein Händeschütteln, Brustabhorchen und ein Rezept für ein Medikament.

Im letzten Teil des Buches versuchen die Brodys, Wege aufzuzeigen, wie man die eigenen Heilungskräfte – sie nennen es innere Apotheke – anzapfen und die Wirkungsmechanismen von „Placebos“ für sich nutzbar machen kann.

Faszinierend ist an „Der Placebo-Effekt. Die Selbstheilungskräfte unseres Körpers.“ vor allem die imposante Auflistung von Studien, die die Wirksamkeit von Placebos aller Arten demonstrieren. Was die Brodys hier über Heilungsmechanismen und die Relevanz von „weichen Faktoren“ wie der Neudefinition der individuellen Bedeutung einer Erkrankung für den Heilungsprozess zusammengetragen haben, steht in starkem Widerspruch zum bisher rein auf Substanzen und Operationen fokussierten wissenschaftlichen Ansatz der Medizin und gehört gerade deswegen für alle im Gesundheitswesen Beschäftigten auf den Lehrplan. Der Selbsthilfeteil ist meines Erachtens recht schwammig gehalten und nicht so hilfreich – nichtsdestoweniger ist „Der Placebo-Effekt“ ein hervorragendes Buch, das man gelesen haben sollte.

Bewertung: ★★★★½