Chuck Palahniuk – Lullaby
Die Geschichte beginnt mit einer Immobilienmaklerin der besonderen Art – sie verkauft Häuser, in denen es spukt. So richtig spukt, und das ist wichtig. Wenige Wochen, nachdem ihre Klienten das Haus bezogen haben – wunderschöne, alte, mit Antiquitäten ausgestattete Häuser und Villen – wollen sie nämlich Hals über Kopf wieder ausziehen und das Haus verkaufen. Wer möchte auch schon das Gesicht eines Toten neben sich in der Badewanne sehen, die sich plötzlich mit Blut füllt, oder nachts Grauen erregende Schreie hinter der Wand hören…
Da niemand ein Verlustgeschäft machen will beim Verkauf, bleibt das kleine Geheimnis zwischen Hausbesitzer und Makler – und schon ist das Objekt erneut teuer an den nächsten Kunden verkauft.
Chuck Palahniuk – Lullaby
Nebenbei erfahren wir, dass die Maklerin für den weiteren Verlauf der Geschichte wichtig sein wird, und schon wechseln wir zu Carl. Carl ist Journalist, lebt einsam in einer kleinen Wohnung, und geht langsam am alltäglichen Lärm des Lebens kaputt, einer akustischen Umweltverschmutzung, die ihn ebenso plagt wie ein furchtbarer Schmerz in seinem Inneren. Vor Jahren verlor er über Nacht Frau und Kind. Und bei seiner Arbeit als Reporter findet Carl heraus, dass der plötzliche Tod seiner Familie damit zu tun haben könnte, dass er ihnen ein bestimmtes Gedicht, ein afrikanisches Lied, aus einem Buch vorgelesen hat. Ein Wiegenlied, ein Lullaby. Immer mehr Fälle von plötzlichem Kindstod macht er ausfindig, in denen das Buch noch aufgeschlagen auf der Seite mit dem Gedicht im Kinderzimmer liegt. Was hat er entdeckt?
Das Lied ist ein Merzlied, eine Beschwörung die töten kann. Gemeinsam mit der Maklerin, ihrer Sekretärin Mona, einer Esoterik-Anhängerin, und dem schrägen Ökoterroristen Oyster, der sein Geld mit einer ausgetüftelten Form von Erpressung großer Firmen verdient, macht sich Carl auf den Weg durch die USA, um alle Exemplare des Buches mit dem Gedicht zu finden und zu vernichten. Doch schon bald wird klar, dass sie noch sehr viel mehr suchen – das Grimoire nämlich, einen alten magischen Band mit Zaubersprüchen, die die Welt verändern könnten. Und jeder von den vier ungleichen Gesellen hat seine eigenen Pläne damit…
Was wie eine abstruse Fantasy-Horror-Geschichte klingt, läßt sich eigentlich nicht in ein Genre pressen. Die Figur des Oyster etwa versorgt uns mit wissenschaftlichen Daten über die schon stattgefunden habende ökologische Katastrophe in den USA, die die Einwanderer mit ihrer mitgebrachten Flora und Fauna lostraten, über das langsame Sterben des Eingeborenen, das anschließend zu Massensterben vieler Arten wird.
Als „Mediensatire“ wird Lullaby gern bezeichnet, weil Palahniuk mit dem Merzlied den ultimativen Virus in die Welt setzt, und tatsächlich ist seine Vision vom gesprochenen und später gedachten Virus, der eine stumme, auf ungefährliche Texte überprüfte, abgeschaltete mediale Welt zur Folge hätte, für den Homo sapiens des 21. Jahrhunderts ebenso phantastisch wie unvorstellbar – und gerade deswegen atemberaubend.
Ein Stück weit ist ‚Lullaby‘ ein Road Movie, ein wenig ein altmodischer Kriminalroman, und eine Gesellschaftssatire, in der die Öko-Eso-Hippie-Szene genau so aufs Korn genommen wird wie das Establishment. Dieser bunte Genremix spiegelt sich wider in der teilweise surrealen Handlung, die Palahniuk klar, knapp und ausdrucksstark und mit ebenso viel nihilistischem Witz wie zynischer Gnadenlosigkeit beschreibt. – Genial.
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