Science Fiction

Bruce Sterling – Schwere Wetter

Wir befinden uns irgendwo in den 30er Jahren des 21. Jahrhunderts. Die globale Klimakatastrophe ist eingetreten, Staaten haben keine Bedeutung mehr, Währung ist komplett virtuell und privatisiert und das Wirtschaftsgefüge entspechend chaotisch. Immer neue Epidemien mutagener Erreger von Cholera, Tbc und anderen jahrhundertealten Begleitern der Menschheit beuteln die ohnehin schon nur noch mit dem Überlebenskampf beschäftigten 8 Milliarden Lebewesen auf der Erde.

In dieses Szenario versetzt uns Bruce Sterling mit seinem Roman

„Schwere Wetter“ (Heavy Weather).

Enter Alex Unger, körperliches Wrack, Zyniker vom Dienst, steinreicher Erbe und Pillenfreak, der sich in einer illegalen, begehrten clínica in Mexiko, dem Dorado der modernen Medizin, eingebucht hat. Mexiko ist das am höchsten entwickelte Land wenn es um Bekämpfung exotischer Erreger geht, und die Patienten stehen Schlange vor den Tempeln der Gesundheit. Bevor die dort ansässigen Ärzte mit ihrer Heilkunst Alex Ungers Leben ein angemessenes Ende setzen können, haut seine Schwester Janie, die ihn seit frühester Kindheit hasst und für einen Hypochonder hält, den sterbenskranken Twen aus der Misere und schleppt ihn in ein Camp von ganz besonderen Spinnern – der Stormtrooper.

Die Stormtrooper sind Jäger, aber sie jagen kein Wild (außer zu Nahrungszwecken), sondern Stürme, vorzugsweise Tornados, die es im Amerika ihrer Zeit reichlich gibt. Der ausgetrocknete mittlere Westen und Texas sind ihre Haupteinsatzgebiete, sie benutzen jegliche Hi-Tech (Solar-Arrays, VR-Ornithopter, intelligente Fahrzeuge und Materialien), die ihnen zur Verfügung steht, um den absoluten Thrill zu ergattern – den größten Tornado den der Planet je gesehen hat und den einige für Legende halten. Gleichzeitig graben sie nach ‚Komantschennahrung‘, Wurzeln besonders robuster Pflanzen, die die Dürre überstehen – die Diskrepanz aus High-Tech und No-Tech könnte größer kaum sein. Aus solchen scheinbaren Widersprüchen, die in sich jedoch erschreckend logisch sind, bezieht Sterlings Vision ihre Kraft.

Die Welt, die Sterling zeichnet, ist unserer sehr ähnlich, eigentlich unsere aus einem ganz bestimmten Blickwinkel weitergedacht. So scheinen Verbindungen mit dem Netz und lokale Kopien der ‚Bibliothek‘ – einer Sammlung allen Wissens aus dem Jahr 2015 bzw. 2029, Folge des Freedom of Information Act bzw. des Zusammenbruches der Vereinigten Staaten von Amerika – jedermann zugänglich. Es gibt keine Ordnungsmächte mehr ausser lokaler Selbstregulation, exemplarisch am Beispiel der Texas Rangers, die als marodierender, gut bewaffneter Männerbund das Texas der Neuzeit im Griff haben. Thai-Pop ist allerorten, genetisch modifizierte Fleisch- oder Pharmaziegen gehören zum alltäglichen Bild. Und schließlich wirft ‚Heavy Weather‚, so der Originaltitel, einen mit mehr meteorologischem Fach- und Pseudo-Fachjargon zu, als man je wirklich lernen wollte.

Worum es geht:

  • das Überleben von Alex und die Bereinigung der Beziehung zu seiner Schwester
  • die globale Klimakatastrophe
  • ein gutes Stück Cyberpunk
  • den F-6- aka Monstertornado, der das Gesicht der Welt dauerhaft verändern soll

Was das Buch bietet:

  • eine atemberaubende Achterbahnfahrt durch eine potenzielle Zukunft
  • einen schwierigen, zynischen, nachdenklichen und doch irgendwie sympathischen Helden
  • einen Augenöffner was die Sorglosigkeit der ersten Welt (Amerika!) in Sachen Klimaschutz angeht
  • komplexe Charaktere und unerwartete Wendungen
  • viel Spannung und gute Unterhaltung

Wer gern eine gut geschriebene, wissenschaftlich fundierte, wenn auch was die globale Vernetzung angeht für meinen Geschmack zu optimistische Dystopie lesen mag, wird bei Sterling gut bedient – er sprengt hier die Grenze des Genre Cyberpunk und wird gesellschaftskritisch, was dem Roman gut bekommt. Ärgerlich ist dagegen, dass kurz vor Ende ein komplett neuer Handlungsstrang mit neuen Ideen aufkommt, der einen ganzen Roman füllen könnte, aber leider nicht fortgeführt wird. Hier sind wohl die – ausgezeichneten – Ideen mit Sterling durchgegangen. Das ist dann auch mein Hauptkritikpunkt an diesem Buch: Sowohl die Charaktere als auch die Ideen, die Sterling aufbietet, entwickeln sich nicht zu ihrem vollen Potenzial; das meiste, das man sich genauer beschrieben wünscht, wird nur angerissen – in diesem Buch steckt sehr viel mehr, als Sterling letztlich daraus gemacht hat, und das Ende ist dann leider auch viel zu Hollywood-Rosa.

Fazit: Dank seiner starken Bilder und Ideen trotz einiger Mängel lesenswert, ich würde allerdings denen, die ausreichend Englisch verstehen, die Originalausgabe „Heavy Weather“ empfehlen.

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Bewertung: ★★★½☆