Walter Tevis – Die Letzten der Menschheit (Mockingbird)
Only the mockingbird sings at the edge of the woods.
Es ist dieser Satz, der dem englischen Original von
Die Letzten der Menschheit
seinen Titel gab: Mockingbird.
Vor 20 oder 25 Jahren habe ich Walter Tevis‘ Endzeitvision eines von der Menschheit fast verlassenen Planeten das erste Mal gelesen. Im Rückblick, mit einigem an postapokalyptischer Fiction mehr, das ich gelesen habe, erscheint Mockingbird längst nicht mehr so apokalyptisch wie damals, aber auch beim Wiederlesen hat sich die alte Faszination dank einer großartigen Erzählung erneut eingestellt.
Im 25. Jahrhundert ist die Erde scheinbar von Menschen entleert. Nur Spofforth zieht einsam durch ein verfallendes New York seiner Wege, nimmt wie jeden Tag den Fussmarsch auf das alte Empire State Building auf sich, das nur noch von Servicerobots bevölkert wird, und starrt auf den Zerfall. Das erinnert zunächst fatal an die Eingangssequenz von I am Legend mit Will Smith, könnte aber kaum weiter davon entfernt sein.
Die Menschheit, oder was von ihr übrig ist, existiert sehr wohl – aber sie vegetiert von Halluzinogenen benebelt und psychedelische TV-Screens beglotzend dumpf vor sich hin; das Leben wie wir es kennen wird von Robots erledigt. Als höchstes Kulturgut gilt es, sich aus dem Leben anderer herauszuhalten und Emotionen und Risiken zu vermeiden, Familien existieren nicht länger, niemand beherrscht mehr die Kunst des Lesens. Auch die Welt der Roboter – die alles am Laufen halten – unterliegt langsamem Zerfall, da niemand mehr in der Lage ist, Dinge zu reparieren oder zu warten. Das Ende ist nah, weil homo sapiens einfach zu weggetreten ist, um sich um etwas zu kümmern – einschliesslich der eigenen Vermehrung. „Spontane Selbstverbrennungen“ sind der dernier cri.
Die Person, die wir im ersten Kapitel kennenlernen, ist Bob Spofforth. Er ist ein Typ-9 Roboter, die höchstentwickelte Maschine, die die Erde je betreten hat, und hochintelligent. Spofforth hat daher viele Aufgaben in der Verwaltung der Stadt. Eines Tages erfährt er, dass ein Mann namens Paul Bentley, Professor in Ohio, ihn kontaktiert hat. Und das Faszinierende: Bentley beherrscht das Lesen. Er hat es sich selbst anhand alter Kinderbücher beigebracht.
Spofforth bietet ihm einen Job an: Bentley soll die Texte alter Stummfilme ablesen und den Ton für ihn aufzeichnen. Und aus einem der Stummfilme stammt auch die Zeile, die Pauls Leben so verändert wie der Aufenthalt in New York:
Nur die Spottdrossel singt am Rande des Waldes.
Der Satz verursacht eine merkwürdige Traurigkeit bei Bentley, eine schmerzliche Sehnsucht, ein tiefes Gefühl, das zu empfinden doch so schlecht ist – aber ihm kommt es nicht schlecht vor. Und als er beginnt, mit Hilfe eines Aufzeichners täglich seine Gedanken festzuhalten, und die vom Staat wie Bonbons verteilten Psychopharmaka absetzt, erkennt Bentley, dass das Leben mit klarem Kopf und klarem Bewusstsein, das Selbst Denken, das Erfahren des Menschseins durch den Prozess des Lesens und Schreibens und der Selbsterkenntnis das ist, was homo sapiens eigentlich ausmacht.
Das ist, im groben, die Message des Buches, doch Tevis hat noch viel mehr zu bieten. Er schickt Bentley, von Spofforth schliesslich in ein Gefangenenlager an der Küste weit weg von New York verbannt, durch das Amerika der Postapokalypse, in ein Gefängnis, das heute nicht grausamer sein könnte, in Orte, die seit dem letzten nuklearen Krieg von Vorräten aus Schutzbunkern leben und ihr eigenes Obst und Gemüse anbauen und eine eigenartige Form des Christentums praktizieren, aber auch zu freundlichen telepathischen Bussen und einer defekten Toasterfabrik, in der Roboter seit 40 Jahren Ausschuss am Fliessband produzieren, wieder einstampfen, und erneut produzieren, bis Bentley auftaucht.
Die Handlung windet sich um eine Liebesgeschichte, die ebenso kompliziert wie zartfühlend erzählt wird, die Geschichte der hochintelligenten Ausreisserin Mary Lou, in die sich nicht nur Paul, sondern auch der Robot Spofforth verliebt – und Mary Lou ist diejenige, die schliesslich auch die Ursache der ganzen Katastrophe, die über die Menschheit hereingebrochen ist, erkennt.
Die Letzten der Menschheit ist ein Monument der Science Fiction als Literaturgattung – und ein Monument der Menschlichkeit. Gemeinsam mit Fahrenheit 451 ist es eine Hommage an das gedruckte Wort und den menschlichen Geist.
Wunderschön. Unbedingt lesen.
Bewertung:
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