HanneLore Hallek – Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
Als ich kürzlich einen Großteil meiner Bibliothek bei Librarything einpflegte, stellte ich erstaunt fest, dass neben dem Hörbuch von Hape Kerkeling ein weiteres Werk über eine Wanderung auf dem Jakobsweg in meinen Regalen stand. Also nahm ich
HanneLore Hallek: Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam. Ein Frauen-Jakobsweg
zur Hand.
Und gleich auf den ersten Seiten zieht die Autorin, Mutter von vier Söhnen, den Leser mit auf ihre Reise nach Spanien und auf den Jakobsweg, mit einem schönen Kunstgriff: den Sätzen. die sie einer Freundin auf den Anrufbeantworter spricht, um ihr von der Reise zu erzählen, und dann doch in den reisetagebuchähnlichen Text zu wechseln, weil man so viel ja unmöglich am Telefon erzählen könne…
Mitte 50 ist sie, als sie mit einer Freundin aufbricht, den Camino frances von St. Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela zu wandern, hat eine schwere Gesundheitskrise hinter sich, und man fragt sich unwillkürlich, was ist ihr zugestoßen, und wie verkraftet sie diese Tortur von rund 800 km Fußmarsch körperlich. Allerdings, über ihr Leben erfährt der Leser nur wenig, vermutlich hält Hallek bewusst private Dinge weitestgehend aus diesem Reisebericht heraus.
Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt, nach den jeweiligen Weggefährten, mit denen sie ihre Wanderung absolviert – ihre Freundin Maja, mit der sie sich schon bald überwirft, nur noch sie selbst sein will; Eric, der junge Mann, der ihr Sohn sein könnte und doch ihr Spiegel ist; und schließlich die lange Strecke, die sie größtenteils allein mit sich selbst absolviert.
„Ein Frauen-Jakobsweg“ hat sie das bei BoD verlegte Buch untertitelt, aber ich kann darin wenig Frauenspezifisches erkennen – die Lektionen, die Menschen für sich auf der Strecke des Jakobsweges lernen, dürften ebenso universell wie hochgradig persönlich ausfallen.
Hallek gibt sich Mühe, die Strecken zu beschreiben, die sie geht, ihre Eindrücke zu sammeln, etwas von der Kultur und Landschaft und Architektur Spaniens zu vermitteln, gleichzeitig auch einen Einblick in ihr Inneres zu geben, von der Erhabenheit oder auch spirituellen Intensität, die Gottesdienste und Kirchen und Kathedralen unterwegs in ihr auslösen, und so ist das Buch vollgestopft mit Details und Fakten, die am Ende leider zu einem großen Hintergrundrauschen werden.
Beim Lesen habe ich das Gefühl, in wenigen Tagen über den Jakobsweg gehetzt zu werden, wundere mich über Halleks Widersprüchlichkeit, die emotionalen Aufs und Abs, die in den Tageseinträgen teilweise stündlich zu oszillieren scheinen. Die Menschen, denen sie auf ihrer Reise begegnet, scheinen ihr wichtig zu sein, und doch lässt sie uns an ihren Persönlichkeiten nicht wirklich teilhaben; Eric, eine der bestimmenden Figuren ihrer Reise, bleibt wenig mehr als eine Skizze widersprüchlicher Gefühle und Eigenschaften.
So interessant ich auch Halleks Wanderung finde – ich freue mich, dass sie sich die Mühe macht, auf die geographischen Gegebenheiten einzugehen – so sehr bleibt ihr Bericht eine Momentaufnahme, ein reines Tagebuch, als solches ist es zu lesen und wohl auch zu verstehen. Hier findet – zumindest auf dem Papier – keine lange Reflexion statt. Die Entwicklungen, die sie zu einer anderen Frau machen als die, die losgegangen ist, werden nur angedeutet, der damit verbundene innere Prozess der Auseinandersetzung, des Nachdenkens, bleibt verborgen, die Widersprüche zwischen der Person, die sich als unselbständig, schwach und es allen Recht machen wollend und gleichzeitig als emotionale Manipulatorin erlebt, bleiben ungelöst.
Für die Landschaftsbeschreibungen und Einsprengsel zu Kultur und Geschichte der Orte am Jakobsweg taugt ein Reiseführer besser, das Hin- und Herspringen zwischen „es geht mir gut“ und „es geht mir furchtbar“ erscheint willkürlich, und irgendwann ohne Zusammenhang auch des inneren Erlebens nur noch schwer nachvollziehbar, ebenso die geistigen „Entwicklungen“ auf der Wanderschaft, da die Autorin offensichtlich vieles ausblendet.
Es ist Halleks gutes Recht, ihr Innerstes nicht offen zu legen, aber genau das hätte dieses Buch von einem mehr oder weniger heruntergeschriebenen Reisetagebuch zu einer wirklichen Reiseerzählung mit Tiefgang machen können, die mehr liefern kann als Beschreibungen von Bäumen und Kirchen am Wegesrand oder dem Nickerchen im Schatten eines Mandelhains.
So habe ich, als sie in Santiago de Compostela ankommt, nur die Frage: wie, das war schon alles?
Die Reise geht gefühlt beim Lesen viel zu schnell. Orte, Menschen, Erfahrungen wischen vorbei – das sollen mehrere Wochen, 800 Kilometer gewesen sein?
Wer sich auf den Jakobsweg machen will, sollte dieses Büchlein mit seinen knapp 220 Seiten auf seinen Lesestapel legen, zeichnet Hallek doch ein ganz anderes Bild des Jakobswegs als es zum Beispiel Kerkeling tut, auch weil sie die Menschen anders erlebt, andere Prioritäten setzt, in Refugios / Pilgerherbergen absteigt, ihren Glauben aktiv in Kirchen und bei Messen verfolgt. Sie geht ihren eigenen Weg, im Wortsinne, und das macht dieses Buch in der Tat lesenswert.
Wer aber Wert auf den Selbsterfahrungsteil legt, auf die tatsächliche Reise eines Suchenden zu sich selbst, wird bei diesem Buch nur im Ansatz finden, was er sucht. Der Titel behauptet, Hallek sei „ganz woanders“ angekommen – vielleicht ist sie das, für sich selbst. Für den Leser stellt sich das jedoch anders dar, für den Leser endet die Reise doch – irgendwie – in Santiago.
Ich bin unentschieden bei der Bewertung dieses Buches. Ich glaube, dass mit einer professionelleren Herangehensweise und einem guten Lektorat daraus ein wirklich toller, atemberaubender Text hätte werden können, aber so wie es ist, finde ich es unbefriedigend, dabei anerkenne ich sowohl die Leistung Halleks als auch, dass dieses Buch von anderen Menschen ganz anders gesehen werden mag. Es ist und bleibt ein Reisetagebuch, nicht mehr und nicht weniger.
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