Kenneth S. Lynn – Hemingway: eine Biographie
Hemingway-Biographien gibt es reichlich. Was könnte auch verlockender sein als das aufregende, abenteuerliche Leben eines tragischen Macho-Helden, der sich stets als Sinnbild der Männlichkeit in Szene setzte, sich als Großwildjäger und Casanova einen Namen machte, und die Weltliteratur um eindrucksvolle Figuren und Romane bereicherte?
Kenneth S. Lynn – Hemingway: eine Biographie
Kenneth Lynn ging einen anderen Weg, für den er so manche Kritik einstecken musste. Seine Biographie Hemingways unterscheidet sich nicht nur in der Methodik, sondern auch in den Schlüssen, zu denen er kommt, von bisherigen Darstellungen. Lynn schaut kritisch hinter die Fassade des stierkämpfenden Romanciers.
Akribisch erzählt der Autor die Abschnitte des Lebens von Ernest Hemingway, angefangen von der frühesten Kindheit, beleuchtet seine Beziehungen zu Mutter, Vater, Geschwistern. Diese Beziehungen und ihre psychischen Zwänge, die Art, wie sie den jungen Ernest formten, ziehen sich als roter Faden durch die Biographie. Eingeholt von seinen eigenen Süchten und Inszenierungen, den Lebenslügen, die er nicht nur den anderen, sondern vor allem sich erzählt hat, beendet Hemingway schließlich sein Leben selbst – in einem letzten, dramatischen Akt, einem letzten Mannbarkeitsritus? Oder gibt er nur auf, wie es sein Vater lang vor ihm getan hat?
Lynn greift auf altbekannte Fakten zurück, hier kommt nicht etwa neues Material zum Tragen, nein, Lynn verwendet es nur auf neue Weise. Er zitiert bisweilen seine Vor-Schreiber und streicht heraus, was ihm gut und was weniger erhellend erschien an den Arbeiten derer, die sich Hemingways Vita bisher vornahmen. Station für Station, Kapitel für Kapitel erlebt der Leser Hemingways Leben und Reisen, seine Beziehungen zu Freunden, Frauen und Familie, aber auch die Lügen, den Alkohol, den Selbstbetrug, die Suche nach dem Adrenalinkick, die Facetten einer vielschichtigen und schwierigen Persönlichkeit mit all ihren Tugenden wie Lastern. Und auch Historisches kommt nicht zu kurz – brillant erklärt Lynn, wie es dazu kam, dass Paris für Amerikaner nach dem 2. Weltkrieg so verlockend war, lässt uns in die Schützengräben blicken, in die grauengeweiteten Augen von Soldaten.
Ob tatsächlich die Prägungen, die Kenneth Lynn in das Leben Hemingways hineinliest, so tief reichten, dass Ernest, der als kleiner Junge Mädchenkleider trug und von seiner Mutter als Mädchen zurechtgemacht wurde, deswegen sein ganzes Leben gegenüber der Welt beweisen musste, dass er ein wahrer Mann war, kann man akzeptieren oder nicht. Die genaue und bisweilen schonungslose Analyse von Hemingways Lebensgeschichten, der Fakten und dem, was er dazuerfunden oder später umgedeutet hat, seiner Freundschaften und Beziehungen, macht die Stärke dieser Biographie aus – fast minutiös kann man nachvollziehen, wie sich Hemingway wann in seinem Leben gefühlt haben muss, welche Einflüsse in sein Werk eingegangen sein mögen und warum – das macht Lust auf mehr (Hemingway).
Nicht ins Rampenlicht hat Lynn hier Hemingway gestellt, sondern viele kleine Schlaglichter gesetzt, die die literarische Figur von „Pappa“ Hemingway plastischer und in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen als bisher. Diese intensiv menschliche Charakterisierung des Schriftstellers zeigt uns einen authentischen, glaubwürdigen Hemingway jenseits des Titelbild-Machos, den er so gern gab.
Die große Vielfalt an Details und Hintergründen, die Lynn zusammengetragen hat, ist teilweise sehr anstrengend zu verarbeiten. Daher ist „Hemingway: eine Biographie“ nicht leicht zu lesen, ja eigentlich am Stück gar nicht verdaulich, dafür ist sie auch viel zu lang. Eher kann man sich diesem Gesamtwerk eines Lebens kapitelweise nähern. Ideal ist sie aber geeignet, um auch gezielt zu Lebensabschnitten und Werken Hemingways passende Sekundärbezüge herstellen zu können – oder sich langsam einen der Großen der Weltliteratur ganz neu zu erschließen. Ein großartiges Buch über einen großen Schriftsteller.
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