T. C. Boyle – Talk Talk
Ich bin ein großer Fan der Bücher von Thomas Coraghessan Boyle, seit ich 1995 The Tortilla Curtain, deutsch America, las.
In
T. C. Boyle – Talk Talk
legt er wieder einmal einen zeitgenössischen Roman vor, der sich – ähnlich wie The Tortilla Curtain – daran macht, den (nicht nur) US-amerikanischen (Alp-) Traum zu sezieren.
Und das Thema, welches er sich vorgenommen hat, ist eins, das mir den Atem stocken lässt – von der Willkür und Sinnlosigkeit des amerikanischen Polizei- und Justizwesens ist es nur ein kurzer Schritt zur Problematik des Identitätsdiebstahls, in den USA noch massiv verschärft dadurch, dass es kein einheitliches Meldewesen gibt, und Konzerne wie Kunden sorglos mit Identitäten und deren Sicherung umgehen.
Alles beginnt mit Dana Halter, einer gehörlosen Lehrerin, die auf dem Weg zur Arbeit, weil sie es eilig hat, nicht an einem Stoppschild hält. Und wenig später findet sie sich in einem Gefängnis wieder, wo man ihr die Liste ihrer immer noch aus zahllosen Counties und Bundesstaaten hereintröpfelnden Verfehlungen vorhält – geplatzte Schecks, Kreditbetrug, offene Rechnungen – ein fiskalisches Armageddon. Nur dass sie an keinem dieser Orte jemals war. Wegen der Fluchtgefahr weigert man sich, Kaution zu genehmigen, da sie in wenigstens zwei Staaten auf der Fahndungsliste stehe. Auch ihr Lebensgefährte Bridger, Special-Effects Programmierer im Valley, und ein herbeizitierter Gebärdensprachdolmetscher und ihre Anwältin vermögen nichts zu ändern – Dana muss mehrere Tage im Gefängnis verbringen, und selbst als sich herausstellt, dass sie unschuldig ist, kann sie dem System nicht einfach entkommen.
Das alptraumhafte Szenario, das Boyle hier im ersten Abschnitt des Romans entfaltet, schickt mir kalte Schauer den Rücken hinab – ist auch der Polizeistaat, wie er ihn schildert (und für die USA wohl so auch realistisch ist), bei uns noch ein klein wenig moderater (wenn auch nicht viel), ist auch unser Kredit- und Identitätsmanagement eine Winzigkeit schwerer zu knacken, das was er da schildert, könnte jedem von uns passieren, wenn unsere Daten in die falschen Hände geraten, und es ist ein guter Grund, auch weiter paranoid zu sein was Datenschutz angeht.
Der Großteil des Romans befasst sich aber weniger mit dieser Problematik, sondern mit einer sich langsam entfaltenden Dreiecks-Nicht-Beziehung zwischen Bridger, Dana Halter und dem Mann, der ihre Identität als Dr. Dana Halter gestohlen hat und eigentlich William „Peck“ Wilson heisst. (Bezeichnenderweise ist „William Wilson“ eine Geschichte von Edgar Allan Poe, in der es um einen Doppelgänger geht).
Da die Strafverfolgung weder fähig noch willens ist, dem falschen Dana Halter das Handwerk zu legen, machen sich Bridger und Dana auf die Suche nach dem Doppelgänger, damit die Sache ein für alle mal geregelt ist und Dana wieder ruhig schlafen kann. Was folgt, ist eine fernsehreife Verfolgungsjagd, und mit einer Verfilmung ist wohl zu rechnen.
Boyle nimmt sich viel Zeit, den Täter in diesem Roman vorzustellen, in sein privates Leben, seine Antriebe, seine Psyche einzutauchen, und doch kann man für ihn irgendwie kein Verständnis aufbringen, er ist einfach nur ein narzisstischer Egomane, ein „villain“ par excellence – das ist ungewohnt banal. Ebenso wenig entwickelt sich die gehörlose Dana Halter zu einer Person, die man mag oder mit der man sich identifizieren könnte, sie scheint unter einem Panzer von Aggression zu leben. Das liegt wohl auch daran, dass Boyle die Andersartigkeit des Lebens einer Gehörlosen in einer hörenden Umwelt trotz des Titels – Talk Talk ist der US-Ausdruck für eine Gebärdensprach-Unterhaltung zwischen Gehörlosen – nicht vermitteln kann, zu sehr ist seine Darstellung von Dana in Klischees verhaftet.
Der Identitätsdiebstahl, der diesem Roman den brisanten Kern hätte geben können, bleibt einleitendes Beiwerk, da hilft auch die Thriller-Struktur nicht, die Boyle dieser Charakterstudie übergestülpt hat. Nicht plottragende detaillierte Beschreibungen der Gourmetmenus, die sich der Kriminelle zubereitet, kontrastieren mit den eher unmotivierten Verfolgungsjagden, deren Szenenschnitte an ein Drehbuch erinnern – das Buch wirkt wie aus Versatzstücken unterschiedlicher Filme oder Stories zusammengesetzt, und kulminiert schließlich in einem Finale, das ebenso vorhersehbar wie unbefriedigend ist.
Die Frage „Wer bin ich?“ mit dem faktischen Verlust der Identität auf dem Papier zu koppeln, ist ein interessanter Ansatz – das was Boyle daraus gemacht hat, ist jedoch enttäuschend auf ganzer Linie und vermag nicht einmal mit Sprachwitz zu überzeugen. Doppelt schade, da der Roman vielversprechend anfing. Aus diesem Thema hätte man mehr machen können – Talk Talk verschenkt gute 300 von 400 Seiten, um an einen Punkt zu gelangen, der auf den ersten 100 Seiten bereits absehbar war.
Kurzum, eine Boyle’sche Fehlleistung. Meine Empfehlung:
Lieber etwas anderes von T.C. Boyle lesen.
Bewertung: